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Tagung: Die Organisation des Notfalls

Handeln zwischen Notfallplan, Regelverletzung und Sicherheitsfassade

 

18. und 19. September 2014

Institut für Soziologie, Rempartstr. 15, KGIV, 5. Stock, Übungsraum 1

Call for Papers als PDF (Abgabeschluss war der 31.5.2014)

Die Tagungsteilnahme ist kostenlos. Um Anmeldung per Email wird gebeten.

Gefördert durch die:

 

 

 

Organisation und Kontakt

 

Prof. Dr. Stefan Kaufmann

Nils Ellebrecht, M.A.

Tel. 0761 203 3492

nils.ellebrecht@soziologie.uni-freiburg.de

 

Notfälle sind seltene Situationen, die uns vor Herausforderungen stellen. Ob ein plötzlich ausbrechendes Feuer, unvermittelt einbrechende Aktienkurse oder abrupt zusammenbrechende Infrastruktur, stets geht es in Notfällen darum, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um aktuelle Gefahren innerhalb kürzester Zeit abzuwenden. In Organisationen können solche Lösungswege gänzlich unterschiedlich gestaltet sein. Wo der eine Notfallplan auf die betriebliche Hierarchie setzt und im Modus strikter Melde- und Befehlsketten operiert, reorganisiert ein anderer Notfallplan Befugnisse und Verantwortlichkeiten, indem er Kompetenzen neu verteilt und Kommunikationswege verändert. Allerdings sind für die Organisation des Notfalls nicht nur formalisierte Pläne handlungsleitend, ebenso bedeutsam sind Regelverletzungen und Sicherheitsfassaden.

Die Tagungsbeiträge erörtern den Zusammenhang von Organisation und Notfall aus zwei Richtungen. Die Beiträge am ersten Tag adressieren vor allem Organisationen, zu derem Geschäft es gehört, die Notfälle von anderen professionell zu bearbeiten. Am zweiten Tag richten viele Beiträgen ihren Blick dagegen eher darauf, wie Organisationen mit kritischen Ereignissen umgehen, die ihre eigene Operationsweise herausfordern. Dazwischen finden sich Beiträge, die das Tagungsthema wissenssoziologisch oder komplexitätstheoretisch angehen oder fragen, vor welchen speziellen Problemen soziologische Notfallforschung eigentlich steht.

 

Tagungsprogramm

 

Mittwoch, 17.9.2014

 

19.00 bis 22.00 Early Bird Treffen (Hausbrauerei Feierling, Gerberau 46g)                                                                

 

Donnerstag, 18.9.2014

 

9.00 Begrüßung
   
9.20 Nils Ellebrecht (Freiburg)
  Dringliche Hilfe bei Gefahr: Folgen und Probleme organisierter Rettung
  Der Vortrag entwirft den Notfall zunächst als Miniatursituation mit dem Ziel, ihn vom medizinischen und rechtlichen Verständnis abzulösen und ihn für weitere Forschungen anschlussfähig zu machen. Danach wird gefragt, vor welche typischen Probleme Rettungskräfte und deren Klienten in der Notfallinteraktion häufig stehen, welche Herausforderungen die Organisationen zu meisten haben und welche gesellschaftlichen Folgen die Etablierung professioneller Notfalldienste hat.
   
10.10 Olivier Berthod, Michael Grothe-Hammer, Gordon Müller-Seitz, Jörg Sydow (Berlin)
 
Von High Reliability Organizations zu High Reliability Networks? Kollektives Organisieren im Angesicht von Notfällen
  Die bisherige Forschung zu High Reliability Organizations konzentriert sich vor allem darauf, wie einzelne Teams oder Organisationen im Angesicht von Gefahren und Notfällen verlässlich operieren. Wir schließen an diese Forschungsrichtung an und nehmen die verschiedenen Konstellationen zwischen den Organisationen in den Blick. Basierend auf einer umfassenden Feldstudie zum Netzwerk-basierten Notfall-Management der Stadt Düsseldorf unter der Führung der Feuerwehr, beschreiben und analysieren wir verschiedene Netzwerkkonstellationen, die auf Antizipation und Eindämmung als Kernaufgaben bei der Herstellung von Reliabilität abzielen. Auf der Grundlage unserer empirischen Ergebnisse zeigen wir auf, dass die vorgefundenen verschiedenen Netzwerkformationen und deren Entwicklung durch eine hybride Form der Netzwerk-Governance getragen werden, in der die Feuerwehr zwischen dem Status einer „lead-organization“ und einer „network administrative organization“ oszilliert. Diese Governance-Form nutzt dabei etablierte, ruhende und Ad-hoc-Verbindungen, deren Ausprägung maßgeblich durch vier Dimensionen geprägt wird: Regeln, Ressourcen, Zeit und Raum.
   
11.00 Kaffeepause
   
11.30 Stefanie Büchner (Potsdam)
  Organisierte Vernotfallung - Notfallkonstruktion durch Befristung und Tempoideologie
  Organisationen sind in der Lage, aus vormals kaum oder wenig beobachteten Gefährdungsszenarien Notfälle zu kreieren. Am Beispiel der veränderten Bearbeitung von Kinderschutzmeldungen in Jugendämtern
wird gezeigt, wie Notfälle als Situationsrahmungen in Organisationen institutionalisiert werden und welche Folgen ein Organisieren in zwei Geschwindigkeiten - der des Notfalls und der des Normalbetriebs - zeitigt.
   
12.20 Mittagspause
   
13.20 Martina Bierbichler, Andrea Jungmann, Daniel F. Lorenz, Birgit Peuker, Robert J. Schmidt (Berlin)
  Die Simulation eines Absturzes. Eine Übung zwischen Sicherheitsalltag, Notfallplan und notwendigem Regelbruch
  Großschadensübungen an Flughäfen sind nicht nur rechtlich gefordert, sie bieten als inszenierte Notlagen auch die Überprüfung vorhandener Notfallpläne und deren Auslegung. Der empirisch orientierte Beitrag berichtet von dem unterschiedlichen Umgang  mit Krisen in der Krise und diskutiert den Zusammenhang von Plänen und der Notwendigkeit damit einhergehender Regelverletzungen.
   
14.10 Monika Büscher, Michael Liegl, Katrina Petersen (Lancaster, UK)
  Disclosing Disaster? A Study of Ethics, Praxeology and Phenomenology in a Mobile World
  Intersecting mobilities of data, people and resources are an integral part of a new digital urbanism. Thrift speaks of Lifeworld.Inc, a new entertainment-security sector driven contexture where people’s everyday activities, movements, physiological data, thoughts, desires and fears are so richly documented in real time that commercial enterprise as well as urban services (transport, energy, security) can dynamically anticipate and shape them ‘just-in-time’ (2011). While this opens up novel opportunities for more efficiency, comfort, and sustainability in networked urban mobilities, it also provides new leverage for mobilizing disaster response. In a ‘century of disasters’ (eScience 2012), where urbanization has increased vulnerability, and climate change contributes to increased frequency and severity of disasters, this opens up a perspicuous site for investigations of post-human practices, phenomenologies and ethics. Big data analytics and information sharing for risk prevention and disaster response can exacerbate the unprecedented surveillance contemporary societies practice (Harding 2014), Kafka-eske transformations of privacy and civil liberties (Solove 2004) and a splintering urbanism (Graham & Marvin 2001). At the heart of these transformations is a digital phenomenology of invisibility, immateriality and ‘intelligence’ that does not lend itself to human control. ‘Smart cities’ may depend on smart citizens (Greenfield 2013), but the technologies contemporary societies produce do not support human intelligence. We report from ‘inside the belly of the beast’ of innovation in mobilizing Lifeworld.Inc data for disaster response (Balka 2006). Drawing on experience from collaborative research and design projects (e.g. http://www.bridgeproject.eu/en), we discuss the relationship between lived cyborg practice, phenomenology and ethics in networked urban mobilities. Using a disaster perspective for a disclosive ethical investigation (Introna 2007) does disclose some potentially disastrous transformations, but it also highlights avenues for alternative, radically careful as well as carefully radical design (Latour 2009).
   
15.00 Kaffeepause
   
15.30 Jochen Molitor (Universität zu Köln)
  Das Mögliche für möglichst Viele: Die bundesdeutsche Ärzteschaft und die Katastrophenmedizin
  Der zeithistorische Vortrag beleuchtet die Genese der Katastrophenmedizin als neues, zivilmedizinisches Feld in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970/80er Jahre. Dabei wird auf deren Entwicklung aus der klassischen Wehrmedizin heraus ebenso eingegangen wie auf ihre zwischen Katastrophenschutz und "Kriegsvorbereitung" oszillierende Zielsetzung. Die sich hierauf beziehenden Kontroversen zwischen ärztlicher Berufsvertretung und ärztlicher Friedensbewegung verweisen dabei trotz aller rhetorischer Schärfe auch auf das Bemühen beider Seiten um professionsinterne Geschlossenheit in gesundheitspolitischen und medizinethischen Fragestellungen.
   
 16.20 Michael Guggenheim (London, UK)
  Der soziologische Notfall. Ein Notfall-Erfahrungsbericht
  Wenn in Notfällen Notfallpläne und Regelbrüche zur Anwendung kommen, was sind dann die Notfallpläne der Soziologie und welche Regeln brechen Soziologen in Notfällen? Ist soziologische Forschung in Notfällen verschieden von soziologischer Forschung tout court? In diesem Vortrag berichte ich von ethnographischer Forschung in einem Notfall, einigen Regelbrüchen und den Einsichten, die sich daraus sowohl für die Soziologie des Notfalls als auch die des Notfalls der Soziologie ergeben.

 

Freitag, 19.9.2014

 

9.00 Antonia Langhof, Robert Jäschke (Hannover)
  Vom Wissen über die organisierte Bearbeitung von Notfällen und Katastrophen in den Crisis Informatics
  Mit den Crisis Informatics hat sich seit einigen Jahren ein neues Themenfeld in der Informatik entwickelt, das sich ausschließlich mit der Entwicklung informations- und kommunikationstechnischer Lösungen für den Bereich der Prävention und des Managements von Krisen, Notfällen und Katastrophen befasst. Der Vortrag stellt die Frage ins Zentrum, welches Wissen über Notfälle und Katastrophen sowie über ihre organisierte Bearbeitung in der Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) eigentlich zugrunde gelegt wird und woher das Wissen bezogen wird. Im Mittelpunkt werden die Ergebnisse einer bibliometrischen und inhaltsanalytischen Untersuchung von einschlägigen Publikationen im Bereich der Crisis Informatics stehen. Die Analyse liefert Erkenntnisse mit Blick auf implizite und explizite geteilte Annahmen in Bezug auf (a) die (vermeintlichen) Charakteristika von Notfällen und Katastrophen, (b) ihre Bearbeitung und (c) die Funktionsweise von Organisationen im Bereich des Notfall- und Katastrophenmanagements, auf die sich die Entwicklung von IKT stützt.
   
9.50 Norbert Steigenberger (Köln)
  Organizing for the Big One – A Meta-Synthesis of Case Studies on Disaster Response
  Die Koordination heterogener Einheiten in komplexen Schadenslagen ist ein Kernproblem des Katastrophenmanagements. Zu diesem Thema liegen eine Vielzahl Einzelstudien zu spezifischen Katastrophen vor, die jedoch bisher nicht zu einem konsistenten Verständnis von Disaster Response zusammengeführt und verdichtet wurden. Das vorliegende Paper füllt diese Lücke, bildet Kausalitäten ab, diskutiert Kontingenzen und leitet auf dieser Basis Empfehlungen für das praktische Katastrophenmanagement sowie die Beforschung komplexer Schadenslagen ab.
   
10.40 Kaffeepause
   
11.10 Johannes Weyer (Dortmund)
  Steuerung komplexer sozio-technischer Systeme. Theoretische Konzepte und experimentelle Methoden
  Den Notfall zu organisieren, heißt immer auch, Komplexität zu bewältigen, also Prozesse in sozio-technischen Systemen zu beherrschen und zu steuern, die aufgrund ihrer hohen Eigendynamik eigentlich als nicht (oder kaum) steuerbar gelten.
Unser Wissen über die Steuerbarkeit sozio-technischer Systeme ist jedoch in vielerlei Hinsicht rudimentär. Wir wissen nach wie vor wenig darüber, wie derartige Systeme funktionieren, wie sie sich dynamisch entwickeln und an welchen „Stellschrauben“ man drehen muss, um erwünschte Entwicklungen zu fördern und unerwünschte zu verhindern.
Mit derartigen Fragen der soziologischen Grundlagenforschung beschäftigen sich mehrere Forschungsprojekte an der Technischen Universität Dortmund. Wir haben einen Simulator namens SimCo („Simulation of the Governance of Complex Systems“) entwickelt, mit dessen Hilfe wir komplexe sozio-technische Systeme simulieren und deren Entwicklung unter unterschiedlichen Bedingungen studieren können.
   
12.00 Mittagspause
   
13.00 Günther Ortmann (Hamburg)
  Organisationen in Nöten. Rekursive Rotationen
  Es ist vor, in und nach Notfällen, dass Organisationen ein Verhaltensrepertoir, ein Antwortregister für allfällige Herausforderungen parat haben oder parat haben müssten, und „nach dem Spiel ist vor dem Spiel“. Das führt zwanglos zu der Denkfigur rekursiver Schleifen im Umgang mit Notfällen – seien es circuli vitiosi, seien es positive Zirkel. Die zugehörigen Nachträglichkeiten werden durch ein „Re“ in einschlägigen Antworten indiziert: Reaktion, Revision, Reparatur, Reorganisation, recovery, Resilienz. Proaktive Reaktionen gibt es selbstverständlich auch: Vorsicht, Vorsorge, Vorkehrungen. Der Beitrag soll die wichtigsten solcher rekursiven Schleifen herausarbeiten.
In Nöte, nämlich in Legitimationsnöte, geraten die modernen Organisationen (als korporative Akteure) aber auch und außerdem, weil sie immer öfter in selbstgemachte Not geraten oder führen, in „normale Katastrophen“, seien es technisch-organisatorische, seien es ökonomische, seien es moralische Desaster. Auch darin zeigen sich rekursive Rotationen, die es in den Blick zu nehmen gilt.
   
13.50 Andreas Folkers (Frankfurt)
  Dass es so weitergeht... Betriebliches Kontinuitätsmanagement in Finanzorganisationen
  Business Continuity Management (BCM) ist eine Risiko- und Krisenmanagementtechnik, die versucht kritische Geschäftsprozesse trotz des Auftretens disruptiver Ereignisse aufrecht zu erhalten. Aufgrund des zeitkritischen Geschäftsmodells von Banken hat BCM im Finanzsektor eine besondere Virulenz. Am Beispiel von zwei Ereignissen, bei dem Business Continuity Techniken bei Banken zum Einsatz kamen – die Blockupy Demonstrationen in Frankfurt/M 2012 und 2013 und dem Hurricane Sandy 2012 in New York – sollen das Wissen, die Praktiken und weiteren Implikationen des Kontinuitätsmanagments kritisch hinterfragt werden.
   
14.40 Stefan Kaufmann (Freiburg): Schlussbemerkung
   
15.57 ICE vom Hbf Freiburg Richtung Hamburg/Berlin

 

 

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