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Ungeliebte Moderne. Theoretischer Radikalismus im 20. Jahrhundert

In der Vorlesung werden Erfahrung, Diagnostik und Verarbeitung von Modernität behandelt, die in der Zeit von 1900 bis 1945 ausgebildet wurden, und die in ihren repräsentativen Theoriegestalten bis heute ein virulentes und ein problematisches Erbe darstellen. Zunächst geht es um die Sichtweisen einer schwierigen Moderne bei Max Weber und Sigmund Freud. Dann folgen theoretische Radikalisierungen, die darauf abzielen, der ungeliebten Moderne ein Ende zu bereiten. Behandelt werden als Paare feindlicher Brüder im Geiste Radikalisierungen von rechts' und links': Ernst Jünger und Ernst Bloch, Georg Lukàcs und Carl Schmitt sowie Wilhelm Reich und Arnold Gehlen. Die Vorlesung ist der zweite Teil meines Drei-Semester-Überblicks über die Theoriegeschichte der letzten 200 Jahre. Dabei werden die für Soziologie, Kulturwissenschaften und Anthropologie leitenden Begriffe "Gesellschaft", "Moderne", "Kultur" an den historischen Orten aufgesucht, an denen sie problematisch werden und an denen die Theoriestrukturen entstehen, in denen wir heute denken. "Gesellschaft" wird im 19. Jahrhundert problematisch. Karl Marx hat zwischen Hegel und Nietzsche die im Guten wie im Bösen bis heute folgenreichste Gesellschaftstheorie entwickelt, die zu aktualisieren oder zu korrigieren oder zu überwinden in der neuen Periode des Kapitalismus, die wir erleben, strittig gemacht werden muss. - "Moderne" wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts problematisch. Max Weber und Sigmund Freud sowie auf der rechten und linken Seite radikalisierend Ernst Jünger und Ernst Bloch, Georg Lukàcs, Carl Schmitt, Wilhelm Reich und Arnold Gehlen haben in den Zwanziger Jahren Diagnosen von Modernität und Strategien zur Kritik der Moderne entworfen, die zu aktualisieren oder zu korrigieren oder zu überwinden für das heutige Verhältnis von Apologie und Kritik von Moderne, Modernisierung und Modernität zentral sind. Die Vorlesung Ungeliebte Moderne. Theoretischer Radikalismus im 20. Jahrhundert entfaltet diesen Komplex. - "Kultur" wird seit 1968 mit der Thematisierung der Modernitätskatastrophen Archipel GULAG, Auschwitz, Hiroshima und ihrer Erhebung zu Geschichtszeichen problematisch. Zwischen der Intellektuellenszene in Deutschland und Frankreich und teilweise vermittelt durch Schauplätze in den USA hat sich seit 1968 ein Streit um "Poststrukturalismus" und "Postmoderne" entwickelt, in dem es um eine Neubewertung von Kultur unter den Bedingungen von Interkulturalität und medialer Vernetzung geht. Die Vorlesung Kulturtheorie in Deutschland und Frankreich seit 1968 entfaltet diesen Komplex.

Auch als Podcast

Plan der Vorlesung:

Einleitung 20.4. (1.Vorlesung)

  1. Die schwierige Moderne
    Max Weber und Sigimund Freud
    1. Topologie des Irrationalen 20.4./21.4. (2. Vorlesung)
    2. Vielseitigkeit des Rationalen (Weber) 21.4
    3. Religion und ökonomischer Rationalismus 21.4. und 27.4. (3. Vorlesung)
    4. Weibliche Hysterie (Freud) 27.4.
    5. Sexualität und Kultur (Freud) 27.4. und 28.4. (4. u. 5. Vorlesung)
    6. Trauer und Stellungnahme im Weltkrieg (Freud, Weber) 4.5./5.5. (6. u. 7. Vorlesung)
  2. Radikale Krieger und Propheten
    Ernst Jünger und Ernst Bloch
    1. Trifunktionale Ideologie 5.5. (7. Vorlesung)
      Exkurs zur Kriegerfunktion 11.5. (8. Vorlesung)
    2. Materialschlacht und Radikalisierung (Jünger) 11.5./12.5. (8. u. 9. Vorlesung)
    3. Radikalisierung des Messianismus (Bloch) 12.5./18.5. (9. u. 10. Vorlesung)
      Exkurs zu Prophet, Priester, Theologe 18.5.
      Exkurs zur jüdischen Intelligenz in Deutschland 18.5.
    4. Gegen die Moderne: tierisch oder unbedingt 18.5.
  3. Die Formlosigkeit der Moderne:
    Georg Lukács und Carl Schmitt
    1. Lukács Weg an die Seite Stalins 25.5. (11. Vorlesung)
      1. Über Formen urteilen 25.5.
      2. Problematisches Individuum 25.5. und 26.5. (11. u. 12. Vorlesung)
      3. Entscheidung zum Klassenverrat 26.5.
      4. Form der Verdinglichung und Form des Proletariats 8.6. (13. Vorlesung)
    2. Schmitts Weg an die Seite Hitlers 8.6.
      1. Richten, Recht und Repräsentation 8.6.
      2. Romantisieren, individualisieren, diskutieren 9.6. (14. Vorlesung)
      3. Das Souveränitätsproblem 9.6./16.6. u. 22.6. (14., 15. u. 16. Vorlesung)
      4. Ausnahmezustand und Entscheidung 15.6./16.6.
  4. Aktion, Charakter und vegetative Ordo
    Wilhelm Reich und Arnold Gehlen
    1. Die Hemmung rationaler Praxis 23.6. (17. Vorlesung)
      Reichs Massenpsychologie des Faschismus 23.6
      Exkurs: Liebe, Hunger, Triebe bei Freud 23.6./29.6. . (17. u. 18. Vorlesung)
    2. Sexual-Praxis, vegetativ-motorisch
      Charakterpanzer und Ideologie bei Reich 29.6./30.6. (18. u. 19. Vorlesung)
    3. Handlung, Reflektion, Antrieb
      Das Mängelwesen bei Gehlen 13.6./14.6. (20. u. 21. Vorlesung)
      Exkurs: Philosophische Anthropologie
    4. Entdifferenzierung der Antriebsstruktur
      Charakter, Zuchtbild, Institutionen bei Gehlen 14.6./20.6. (22. Vorlesung)

Schluß 20.6.

Leseliste zur Vorlesung

Vorbemerkung: Die Vorlesung ist so angelegt, daß ihr bei regelmäßiger Teilnahme auch ohne vertiefende Hausarbeit zu folgen ist. An der Vorlesung können Studenten im Grund- und Hauptstudium sowie interessierte Hörer aller Fakultäten teilnehmen.
Das Seminar zur Vorlesung ist Studenten im Hauptstudium vorbehalten, die eine schriftliche Arbeit anfertigen und einen Seminarvorlesungs-Schein im Hauptstudium erwerben wollen. Die Literatur zum Seminar wird im Seminar bekanntgegeben.

Die Literaturangaben in dieser Liste sind in ihrem Umfang so bemessen, daß diejenigen, die das Thema der Vorlesung durch eigene Lektüre vertiefen wollen, dies im Sommersemester auch realisieren können.

Im Teil A der Liste ist von jedem der in der Vorlesung behandelten acht Autoren ein Titel angegeben. Ausgewählt wurden Texte, die über ihre Zeit hinaus einen überragenden Einfluß auf die intellektuelle Diskussion gehabt haben und noch haben. Soziologinnen und Soziologen sollten sie kennen. Die spezielle Sekundärliteratur zu diesen Autoren ist uferlos. Haltbare ältere Darstellungen und der neueste Forschungsstand sind jedoch bei Bedarf leicht über die einschlägigen bibliographischen Systeme zu eruieren.

Im Teil B der Liste sind weitere acht Titel aufgeführt, die bei der Kontextualisierung der behandelten Theorien helfen können und in denen Probleme der Erfahrung, Diagnostik und Verarbeitung von Modernität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert werden.

A. Titelauswahl zu den in der Vorlesung behandelten Autoren

  • Ernst Bloch, Geist der Utopie 
    (Die Fassungen von 1918 und 1923 weichen stark voneinander ab)
  • Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 
    (1915-1917, nicht zu verwechseln mit "Neue Folge der Vorlesungen..." von 1932)
  • Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 
    (1940, ab 4.Auflage 1950 ist besonders der III. Teil beträchtlich revidiert.)
  • Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (1922)
  • Georg Lukàcs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien übermarxistische Dialektik 
    (1923, im späten Vorwort von 1967 werden Verleugnungen und Revisionen gerechtfertigt)
  • Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus
    (1933, spätere Fassungen ab 1946 enthalten beträchtliche Revisionen.)
  • Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität 
    (1922, spätere Auflagen differieren wenig aber charakteristisch.) 
  • Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 
    (1904/1905; überarbeitet 1920)

B. Titelauswahl zum Kontext

  • Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/Main 1987 
    (hervorragendes Geschichtsbuch)
  • Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik dessozialen Radikalismus. (1924), in: Ders. GesammelteSchriften, Bd.V, Frankfurt/Main 1981 (klassische Schrift zum Verhältnis von Radikalismus und Moderne)
  • Manfred Gangl, Gérard Raulet (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, 2., neubearb. und erw. Aufl. Frankfurt/Main 2007 
    (enthält neben wichtigen Beiträgen auch die Skizze eines Teils der Vorlesung)
  • Leonard Reinisch (Hg.), Die Zeit ohne Eigenschaften, Stuttgart 1961 
    (enthält hilfreiche Beiträge zur geistigen Situation in den Zwanziger Jahren)
  • Maurice Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/Main 1968 
    (von der Rationalitätskrise zur Revolution. Klassische Schrift über marxistischen Radikalismus)
  • Andreas Göbel, Dirk van Laak, Ingeborg Villinger (Hg.), Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, Berlin 1995 
    (Carl Schmitt und Alternativen in Weimar, enthält auch meinen Beitrag über Lucács und Schmitt)
  • Helmut Dahmer, Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke, Frankfurt/Main 21982 
    (über Radikalisierungen im Anschluß an Freud)
  • Helga Pagel, Narziß und Prometheus. Die Theorie der Phantasie bei Freud und Gehlen, Würzburg 1984 
    (hilfreicher Theorievergleich)

C) Material zur Vorlesung

 

  • Konstellierter "Dialog" zwischen Ernst Bloch und Ernst Jünger
    Nachweise aus:
    Ernst Bloch, Geist der Utopie (Erstfassung), nach der Gesamtausgabe Bd.16
    Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, nach der Werke-Ausgabe Bd.5
    Die Zusammenstellung bestand aus Zitaten der Seiten:  
    Bloch 237; Jünger 69f.: Bloch 238; Jünger 38; Bloch 254; Jünger 18; Bloch 249; Jünger 58; Bloch 238; Jünger 59; Bloch 341; Jünger 44; Bloch 433.