Lehre
Es werden regelmäßig Lehrveranstaltungen aus den Themenfeldern Sicherheit, Techniksoziologie und Organisations-soziologie angeboten. Schwerpunkte bilden dabei eine kulturtheoretische Ausrichtung, im Bereich empirischer Forschung wird mit qualitativen Methoden, insbesondere mit diskursanalytischer Ausrichtung gearbeitet.
SS 2024
Gewalt: Theorien und Phänomene
Mittwoch 12 - 14 Uhr
In dem Maße, in dem moderne Gesellschaften Institutionen und Verfahren der Ordnungsstiftung entwickelt haben, gilt Gewaltfreiheit als Normalfall des Alltagslebens. Die Gesellschaft gilt als weitgehend gewaltfrei, zugleich aber ist sie in immer neuen Schüben von Gewalt beunruhigt. Altbekannte Phänomene, wie ein Krieg in Europa, kehren überraschend zurück, weitgehend beschwiegene Phänomene, wie sexualisierte Gewalt, rücken verstärkt ins Licht, gänzlich neue Gewaltkategorien, wie Mobbing oder Hassrede, tauchen im öffentlichen Diskurs auf. So amorph ihre Erscheinungsformen, so vielfältig ihre Ursachen, so schwer scheint Gewalt zu bändigen. Nicht nur real, sondern auch konzeptionell.
Im Seminar werden im Wesentlichen drei thematische Linien verhandelt: 1) Grundlegende Konzeptualisierungen von Gewalt, u.a. sozialanthropologische (Heinrich Popitz) und zivilisationstheoretische (Norbert Elias); 2) die Ambivalenz der Staatsgewalt als ordnungsstiftende Macht zu wirken und zugleich die Entwicklung kollektiver Gewaltpotentiale zu entfesseln (Thomas Hobbes, Charles Tilly, Zygmunt Bauman); 3) Einzelne Gewaltphänomene, u.a. Polizeigewalt, Hate Speech.
Soziologische Gegenwartsdiagnosen: Krisen, Notstand, Katastrophen als neues Normal?
Dienstag 12 - 14 Uhr
Krisenhaftigkeit gilt als konstitutives Moment moderner Gesellschaft. Politische Instabilität, wirtschaftliche Zusammenbrüche, soziale Kämpfe, kulturelle Konflikte, ökologische Desaster durchziehen ihre Geschichte. Im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert taucht ein – zumindest für die Zeitgenossen – neues Phänomen auf: Nach der Krise ist nicht mehr vor der Krise, vielmehr überlappen sich die Krisen, die Rede ist von „multiplen Krisen“, auch von „Krisenkaskaden“, in denen eine Krise die nächste bedingt. Die Krise gilt als neues Normal. Freilich liegt solchen Diagnosen meist ein sehr offen gehaltener Krisenbegriff zugrunde.
Im Seminar werden zwei Themenstränge verhandelt. Zunächst werden wir uns mit dem Begriff der Krise und dem grundlegenden Zusammenhang von Krise und Moderne (u.a. Koselleck, Habermas, Beck) auseinandersetzen. In einem zweiten Seminarteil werden soziologische Arbeiten aufgegriffen, die vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie ausführliche Zeitdiagnosen (Nassehi, Staab, Amlinger-Nachtwey) vorgelegt haben.
WS 2023/2024
Artefakte und Natur - Vergleich soziologischer Zugänge
Mittwoch 12 - 14 Uhr
Soziologische Theorien räumen artifiziellen und naturalen Phänomen einen sehr unterschiedlichen Platz ein: von Luhmanns Systemtheorie nahezu übergangen, sind sie ein Kernelement in Latours Akteur-Netzwerk-Theorie. An der hochgradigen Technisierung gegenwärtiger Gesellschaft und der universellen Präsenz technischer Dinge im Sozialleben kommt eine soziologische Theorie aber ebensowenig vorbei wie an der anthropogenen Überformung der Erde.
Das Seminar widmet sich daher der Frage, wie aus unterschiedlicher theoretischer Perspektive Technologien, technische Dinge und darüber hinaus auch naturale Phänome konzeptionell gefasst werden. Verhandelt werden sowohl klassische soziologische Zugänge – historischer Materialismus (Marx), anthropologische (Popitz), norm-, handlungs- und kulturtheoretische Perspektiven – wie auch post-soziale Zugänge (Akteur-Netzwerktheorie, Haraway).
SS 2023
Soziologie der (Un-)Sicherheit: Von der Risikogesellschaft zur Gesellschaft der Anpassung?
Dienstag 14 - 16 Uhr
Krisen, Katastrophen und Notlagen scheinen auch in westlichen Gesellschaften zum Signum des 21. Jahrhunderts zu werden. Ob mit Referenz auf terroristische Gefahren seit 9/11, auf technologische Risiken, auf Katastrophen im Zuge des Klimawandels, auf Pandemien oder auf die Rückkehr des Krieges nach Europa: in politischen Programmatiken, in Fachkreisen des Sicherheitsmanagements wie in öffentlicher Diskussion ist nicht nur eine enorme Ausweitung und Dynamik von Sicherheitsthemen zu beobachten, sondern letztlich ein Perspektivenwandel, in dem die intrinsische Verwundbarkeit moderner Gesellschaften und die Frage nach ihrem Selbsterhalt ins Zentrum rückt.
Im Seminar werden unterschiedliche gegenwartsdiagnostisch ausgerichtete sozialwissenschaftliche Analysen dieser Krisenhaftigkeit sowie der Frage, welche Antworten gegenwärtige Gesellschaften entwickeln, verhandelt: als klassische Referenz die Diagnose, in einer Risikogesellschaft zu leben (Beck), in Anknüpfung an Foucault entstandene Arbeiten zum Wandel des Regierens, das systemtheoretische „Unbehagen“ (Nassehi) angesichts begrenzter Regulationskapazitäten, die „Versicherheitlichung“ immer weiterer Lebensbereiche (Wæver, Buzan) sowie die Konjunktur von „Anpassung“ (Staab) angesichts ökologischer Bedrohungspotentiale.
Technik und Sozialtheorie
Mittwoch 10 - 12 Uhr
Soziologische Theorien räumen technischen Phänomen einen sehr unterschiedlichen Platz ein: von Luhmanns Systemtheorie nahezu übergegangen, sind sie ein Kernelement in Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). An der hochgradigen Technisierung gegenwärtiger Gesellschaft und der universellen Präsenz technischer Dinge im Sozialleben kommt aber keine soziologische Theorie mehr vorbei. Insofern bietet die Art und Weise, wie und welche Technologien oder technische Dinge thematisiert werden, einen guten Einstieg in einen Theorievergleich: Welche Probleme in der Entwicklung oder im Umgang mit Technik rücken in den Blick? Was interessiert an der Technik und implizit an der Sozialwelt?
Das Seminar widmet sich den unterschiedlichen Sichtweisen auf technische Dinge aus unterschiedlicher (sozial)theoretischer Perspektive. Verhandelt werden sowohl „klassische“ Zugänge – Marx, kritische Theorie (Habermas), anthropologische Perspektiven (Popitz, Anders) – wie neuere Thematisierung aus systemtheoretischer, medien- bzw. diskurstheoretischer, sozialkonstruktivistischen (Gender, Cultural Studies, ANT) Perspektiven.
WS 2022/2023
Krieg - Literatur, Geschichte, Soziologie
Dienstag 12 - 14 Uhr
„Der Krieg ist nichts als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln.“ (Carl von Clausewitz, Vom Kriege)
„Das ganze Viertel war so durchsichtig geworden, von einer grobkörnigen schneeigen Leere, so niedergerieben, und es wunderte ihn sehr, daß hier und da immer noch ein Gebäude erhalten war, hervorgehoben, ausgezeichnet, eine höhnische Herausforderung, darin zu wohnen.“ (Nicolas Born, Die Fälschung)
Krieg hat vielerlei Gestalt, ist Gegenstand verschiedener Theorien und Auffassungen, von militärhistorischen und -technischen Forschungen, betrifft die Konzentration und Entfesselung seiner Kräfte im Raum, die Hegung oder Freisetzung von Gewalt, heißt Staatenkrieg, Kabinettkrieg, Bürgerkrieg, Freiheitskrieg, Eroberungskrieg oder Volkskrieg und anderes mehr. Seit Homers „Ilias“-Dichtung über den Trojanischen Krieg sind Kriege ebenso und immer wieder Gegenstand ihrer literarischen Darstellung.
Das Seminar möchte zwei Perspektiven auf Kriege miteinander kombinieren: die historisch-soziologische und die literarische, verbunden mit der systematischen Frage nach ihren besonderen Objektfeldern des Wissens und der jeweiligen Leistungskraft ihrer Aussageweisen. In einer historischen Linie beziehen sich die soziologischen und literarischen Texte auf den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg und die „Neuen Kriege“. Viele Facetten vergangener Kriege – dies ein Motiv der Selektion – sind im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine präsent.
Die Polizei. Zur Soziologie einer Organisation
Mittwoch 10 - 12 Uhr
Wie andere Organisationen der Justiz und Inneren Sicherheit arbeitet die Polizei an der Aufrechterhaltung der normativen Ordnung der Gesellschaft: sie operiert mit der Differenz von Recht und Unrecht, mit der Unterscheidung von „erlaubt“ und „verboten“, sie überwacht und bestraft. Als einzige Organisation allerdings ist sie mit einer Gewaltlizenz gegenüber der eigenen Bevölkerung ausgestattet. Daraus resultiert die zentrale Ambivalenz der Polizei: sie changiert zwischen Schutz- und Bedrohungsmacht, zugespitzt in den Schlagwörtern vom "Freund und Helfer" und vom "Polizeistaat". Dieser und weiteren Ambivalenzen - wie dem Changieren zwischen Prävention und Repression - widmet sich das Seminar.
Neben einer historisch-soziologisch geleiteten Verortung der Polizei in Staat und Gesellschaft setzt es sich mit gegenwärtigen institutionellen Transformationen sowie dem Alltag von Polizeiarbeit und polizeilichem Handeln auseinander. Themen sind u.a. polizeiliche Führung und Leitbilder, Spezifika einer Polizeikultur, der (technologische) Wandel von Kontrollpraktiken, gesellschaftliche Probleme der Polizeiarbeit (Gewalt, Diskriminierung).
SS 2022
Soziologie des Krieges - Zur Genealogie und Theorie gegenwärtiger Kriege
Dienstag 14 - 16 Uhr
Nicht selten kehrt Verdrängtes zurück – wenn auch meist in gewandelter Form. Der offene Krieg Russlands gegen die Ukraine gilt nicht wenigen Beobachter:innen – wie auch schon die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren und die Kriege im Zeichen der Terrorismusbekämpfung nach 9/11 – als „Zeitenwende“ oder als Beginn einer „neuen Zeitrechnung“. Jedenfalls erinnert er an eine grundlegende Ambivalenz der Moderne: einerseits haben sich in der Moderne Institutionen und Verfahren der Ordnungsstiftung entwickelt, Kriegsexzesse und militärische Gewalt zu kanalisieren und zu begrenzen; andererseits ist militärische Macht nicht nur eine entscheidende Machtressource geblieben, vielmehr sind mit Modernisierung Prozesse verbunden, kriegerische Macht und Gewalt erheblich zu steigern. In diesem Sinne versucht das Seminar, die Beobachtung und Diskussion zum gegenwärtigen Krieg an grundlegende Zusammenhänge von Kriegs-, Staats- und Gesellschaftsentwicklung in der Moderne zurückzubinden.
Drei thematische Stränge werden verhandelt. Erstens werden mit Rückgriff auf Clausewitz‘ Theorie des Krieges historische Transformationen im Verhältnis von gesellschaftlicher Entwicklung und Krieg (etwa totaler Krieg, atomare Konstellation) in den Blick genommen. Zweitens wird vor dem Hintergrund der konstitutiven und strukturbildenden Funktion von Kriegen für die Ausprägung moderner Staatlichkeit die seit den 1990er Jahren aufgekommene Diskussion um „alte“ und „neue“ Kriege (asymmetrische Kriegführung, Bürgerkrieg) aufgenommen. Drittens wird die Frage nach einer gegenwärtigen Hybridisierung von Krieg und Frieden verhandelt, für die Stichworte wie Cyberwar, Informationskrieg, Finanzkrieg, aber auch der Wandel kollektiver Affektlagen („Ende der Friedfertigkeit“?) stehen.
Urbane (Un-)Sicherheit
Mittwoch 14 -16 Uhr
Sicherheit ist seit den 1990er Jahren in Europa zu einem zentralen Feld städtischer Entwicklung geworden. Man kann von einer sicherheitspolitischen Wende in der Stadtpolitik sprechen, die eine seither anhaltende Dynamik entfaltet. Die Gründe für diese Wende sind umstritten. Während sich politische Legitimationen auf verschärfte Problemlagen berufen, beobachtet die sozialwissenschaftliche Kritik einen gewandelten gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheiten, insbesondere Kriminalität, also einen Wandel der Sicherheitskultur, der im Kontext des Aufstiegs neuer sozialer Unsicherheiten und einer Ökonomisierung der Stadtpolitik zu verorten sei.
Das Seminar wird die Frage nach zugrundeliegenden Logiken der sicherheitspolitischen Wende aufnehmen und an wesentlichen Ausprägungen städtischer Sicherheitspolitik durchspielen: dem neuen ordnungspolitischen Zuschnitt des öffentlichen Raums im Zuge seiner Privatisierung, der Mobilisierung heterogener gesellschaftlicher Akteure im Rahmen städtischer Kriminalprävention, der Technisierung und Materialisierung von Kontrolle im städtischen Raum sowie der forcierten sicherheitspolitischen Rahmung von Großveranstaltungen. Ein Blick über den europäischen Tellerrand hinaus rückt schließlich den Zusammenhang von städtischer Sicherheit und Krieg und auch in Europa sichtbare Trends einer Militarisierung von Sicherheit in den Blick.
WS 2021/22
Soziologie der Sicherheit
Dienstag 14 - 16 Uhr
Seit der Jahrtausendwende vollzieht sich eine Transformation in den Konzepten, institutionellen Arrangements und Praktiken im Umgang mit (Un)Sicherheit. Begriffe wie „Homeland Security“, „Secure Societies“, „Resilient Nation“, „kritische Infrastrukturen“ oder auch „zivile Sicherheit“ prägen politische Programmatiken, mediale Berichterstattung, die Fachdebatten im Sicherheitsmanagement wie auch wissenschaftliche Analysen der Gegenwart. Sie markieren nicht nur einen institutionellen Wandel, sondern auch einen Perspektivenwechsel, in dem die Verwundbarkeit moderner Gesellschaften ins Zentrum des Sicherheitsdenkens rückt. Anstelle äußerer Gefahren ist die intrinsische Verwundbarkeit ökonomisch, medial und infrastrukturell hochgradig vernetzter Gesellschaften in den Vordergrund gerückt. Sicherheitsproduktion bezieht sich inzwischen folglich auf so unterschiedliche Aufgaben wie Terrorismusbekämpfung, das Management von Katastrophen, die Sicherung von Infrastrukturen, die Abwehr von Epidemien, die Kontrolle von Migrationsbewegungen oder die Prävention von Kriminalität.
Die soziologische Auseinandersetzung mit den Triebkräften und Effekten der gegenwärtigen Konjunktur von Sicherheit basiert auf unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Paradigmen, die von ihrer Fragestellung, ihren Schlüsselkonzepten und ihrer methodischen Herangehensweise andere Schwerpunkte setzen. Im Seminar werden unterschiedliche Forschungsdesigns dieser Auseinandersetzung verhandelt: diskursanalytische Studien, die der Genealogie von Sicherheitsproblemen nachgehen; praxeologische Studien, die nach den Spezifika, den Normen und Selbstverständnissen institutioneller Sicherheitspraktiken fragen und insbesondere mit ethnographischer Beobachtung arbeiten; Studien zu Formen und Effekten einer Technisierung von Sicherheitspraktiken, die an den „material turn“ anknüpfen; Studien, welche den affektiven, emotionalen und somatischen Verankerungen und Effekten von Sicherheitspolitiken, -diskursen und -praktiken nachgehen; positivistische Studien, die nach der „objektiven“ Relevanz von Unsicherheiten fragen.
Populismus – Bestimmungen, Theorien, Erscheinungsformen
Mittwoch 12 - 14 Uhr
Der Begriff des Populismus hat – sowohl als politischer Kampfbegriff wie als sozialwissenschaftliche Kategorie und nicht selten als beides zugleich – seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer wieder Konjunktur. Dies auch gegenwärtig: Das Cover eines aktuellen Essays zu Populismus etwa verweist mit Bildern von Victor Orbán, Geert Wilders, Donald Trump, Marine Le Pen, Beppe Grillo und Hugo Chávez noch nicht einmal ansatzweise auf all die Regierungen, Parteien und Bewegungen, die vom demokratietheoretischen Mainstream mit „populistischer Gefahr“ assoziiert werden. Aber schon mit Blick auf die Heterogenität der Genannten stellt sich die Frage, was denn das spezifische Gemeinsame und Abgrenzende, oder anders ausgedrückt: was denn Populismus ist.
Das Seminar wird sich zunächst mit unterschiedlichen Konzeptualisierungen (typologischen, demokratietheoretischen, relationalen) von Populismus auseinandersetzen. Ein erster Schwerpunkt liegt auf der Populismustheorie von Ernesto Laclau und den mit seiner Theorie verbundenen Fragen nach der Konstitution von Hegemonie und kollektiver Identität (Volk), wie auch nach der konstitutiven Affektgeladenheit des Politischen. Ein zweiter Schwerpunkt gilt der (Diskussion um die) Differenz dem Konzept radikaler Demokratie (Linkspopulismus, Chantal Mouffe) und autoritärem Populismus. Daran anschließend werden in gegenwartsdiagnostischer Hinsicht Fragen nach den strukturellen Ursachen populistischer Konjunktur – im politischen System, sozialer Ungleichheit, Mediendynamiken – verhandelt.
SS 2021
Sicherheit in der Krise - Forschungsseminar zur Pandemie
Mittwoch 10 - 12 Uhr
Zugespitzte Krisen, oder genauer: Notfalllagen, wie die derzeitige Pandemie begründen einen radikalen Wandel der Sicherheitsgewährleistung. Notfallgesetze und -verordnungen treten in Kraft, die mit erheblichen Grundrechtseingriffen verbunden sind. Notfälle mögen zunächst selbstevident und selbstlegitimierend erscheinen, sobald sie in eine zeitlich ausgedehnte Notfalllage übergehen, tritt ihr politischer Charakter hervor. Die scheinbare Alternativlosigkeit von Entscheidungen schwindet, die Priorisierung und Verteilung behördlicher Hilfe wird ebenso rechtfertigungspflichtig wie die Einschränkungen des sozialen Lebens. Entsprechend entfalten sich – zumindest in liberalen Gesellschaften – Meinungspluralität und Konflikte, Maßnahmen geraten in Zweifel, öffentliche (Zu-)stimmungen kippen.
Diese Transformation in der Legitimation und Akzeptanz des Notfalls sowie die Entfaltung divergierender Meinungen und Konflikte wird das Seminar anhand der öffentlichen Diskussion zur Politik der Pandemiebekämpfung aufarbeiten. Ein erster Teil des Seminars ist der Erarbeitung der methodologischen und theoretischen Orientierungen gewidmet. Verhandelt werden je nach Interesse und Vorkenntnissen der Teilnehmer*innen die Theorie der Versicherheitlichung (Ole Wæver, Barry Buzan), wissenssoziologische Diskursanalyse, affekttheoretische Reflexionen (Brian Massumi) und die Soziologie der Rechtfertigung (Luc Boltanski, Laurent Thévenot). Ein zweiter Teil analysiert unter diesen Perspektiven die Dynamik des öffentlichen Diskurses zu spezifischen Maßnahmen und Geboten der Pandemiebekämpfung (z.B. Kontaktverbote, Maskentragen, Tracing-App, Impfung). Das Seminar steht im Kontext der Vorbereitung eines größeren Forschungsprojekts und bietet auch Anschlussmöglichkeiten für eigene Studienprojekte und Abschlussarbeiten.
Integration, Diversität und Organisation
Mittwoch 14 - 16 Uhr
Identitätspolitische Spannungen sind zu einem zentralen gesellschaftlichen Konfliktfeld avanciert. Während rechtspopulistische Bewegungen mit identitären Schließungsprozessen auf die Pluralisierung von Lebensentwürfen antworten, verliert der Kampf um Anerkennung und Partizipation exkludierter und benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen keineswegs an Vehemenz. Identität wird zum wesentlichen politischen Einsatz im Kampf um die gesellschaftliche Verfassung, der sich im Umgang mit Migration zuspitzt – als „Chiffre für Pluralität“, „in deren Ablehnung sich gleichermaßen die Abwehr weiterer pluraler Lebensformen bündelt“ (Foroutan). Damit ist nicht nur eine generelle gesellschaftliche Polarisierung skizziert, sondern auch die Paradoxie, dass verstärkte Integration mit verschärften Konflikten einhergeht (El-Maafalani). Dies spiegelt sich auch auf der Ebene von Organisationen und Institutionen wider: Bekenntnisse zu Diversität und interkultureller Öffnung sind schon beinahe obligatorisch, während sich zugleich die Kritik an institutionellem Rassismus verschärft.
Das Seminar wird sich mit diesen Konflikten und Paradoxien zunächst auf gegenwartsdiagnostischer Ebene auseinandersetzen, insbesondere mit Foroutans Diagnose von einer „postmigrantischen Gesellschaft“. In einem zweiten Seminarteil werden unter organisationskultureller Perspektive an einzelnen Fallbeispielen die Spannung zwischen Bemühungen um Diversität – insbesondere unter den Vorzeichen interkultureller Öffnung – und struktureller Diskriminierung verhandelt. Gedacht ist zunächst an Organisationen aus dem Sicherheitsbereich, wie die Polizei oder die Feuerwehr. Je nach Interesse der Teilnehmenden können aber auch weitere Organisationen aus den Feldern Verwaltung, Kirche, Bildung, Wirtschaft, Gesundheitswesen oder Sport verhandelt werden.