Dr. Jan Kruse
Nachruf
Jan Kruse wurde 1974 in Freiburg geboren. Er begann 1995 ein Studium der Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, wechselte dann an die Evangelische Hochschule für Sozialwesen in Freiburg, wo er 2000 ein Diplom der Sozialpädagogik erwarb. Hiernach zog es ihn erneut in die Soziologie: Er wurde am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität von Wolfgang Eßbach promoviert und war dort von 2003 an als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt. Seine Bindung an die Evangelische Hochschule blieb ihm in dieser Zeit erhalten; er wirkte in vielen Projekten der Familienforschung am Sozialwissenschaftlichen Frauenforschungsinstitut (SoFFI F.) der EH mit und engagierte sich als Gründungsmitglied im hochschulübergreifenden Institut für qualitative Forschung (iqs) in Freiburg. Mit seiner Expertise für qualitative Forschungsmethoden, die er auch in selbständiger Arbeit als Dozent und Methodenberater zum Einsatz brachte, machte er sich in ganz Deutschland und in der Schweiz einen Namen.
Seinen Doktortitel und eine Auszeichnung mit dem renommierten Deutschen Studienpreis der Körberstiftung erhielt Jan Kruse für eine empirische Studie über das Arbeiten („Arbeit und Ambivalenz. Die Professionalisierung Sozialer und Informatisierter Arbeit“). Wer ihn kannte weiß, dass er selbst das Arbeiten geliebt und mit großer Hingabe und unermesslicher Energie betrieben hat. Seine wissenschaftliche Produktivität und sein geradezu enzyklopädisches Wissen über qualitative Forschung und Methodologie dokumentieren sich eindrucksvoll in der langen Liste seiner Publikationen und auch darin, dass er im „Dorsch – Lexikon der Psychologie“ nicht weniger als 26 Stichwortartikel verfasste, von Analysegruppe über Hermeneutischer Zirkel bis zu Verfremdungshaltung. Eine andere Facette seiner Person fand in seinem zweiten Arbeitsschwerpunkt Ausdruck, in der Familienforschung. In den Studien „Frauenleben“, „Männerleben“ und „Beziehung, Partnerschaft, Familiengründung“ untersuchte er biografische und intergenerationale Aspekte der Familienplanung – und sorgte zugleich mit seiner ausgeprägt familiären Seite am Institut für eine persönliche und herzliche Atmosphäre. Dank seiner kommunikativen und lebendigen Art war sein Büro gleichermaßen ein Anlaufpunkt für KollegInnen wie Studierende. Als Studienberater für den Bachelorstudiengang Soziologie und Studiengangsorganisator in der Umstellung auf das BA/MA-System hat er dem Institut große Dienste geleistet und sich dabei in bemerkenswerter Weise für die Belange der Studierenden eingesetzt. Auch war er, was an der Universität nicht unbedingt Usus ist, ein charismatischer Lehrer und engagierter Didakt, der Generationen von Studierenden für die qualitative Forschung begeistert hat. Er vermochte einen komplexen soziologischen Begriff wie Alfred Schütz’ „Relevanzsystem“ eindrucksvoll mithilfe eines Kinderspielzeugs zu erklären, mit einem Formenwürfel, den er zu diesem Zweck in der Schreibtischschublade aufbewahrte. Dass das Institut für Soziologie einen anspruchsvollen Schwerpunkt in der qualitativen Methodenausbildung entwickelt konnte, ist nicht zuletzt seinem kompetenten und menschlichen Einsatz in der Lehre zu verdanken. Er band die Studierenden in Forschungsprojekte am Institut ein und oft sprach er mit Begeisterung von ihren Arbeiten. Jan Kruse misstraute dem Duktus des einsamen Denkers – für ihn war Forschung ein kollektives, kommunikatives Unterfangen, das er dank seines integrativen Charakters in enger Vernetzung betrieb. So wundert es nicht, dass er in seiner Habilitationsschrift („Qualitative Interviewforschung“) ein methodisches Verfahren begründete, das er einen „integrativen Ansatz“ nannte. Ungezählte Doktorarbeiten in einer Bandbreite sozialwissenschaftlicher Fächer wurden mithilfe seiner Anleitung zur reflektierten Forschungspraxis verfasst. Binnen weniger Monate war das Buch fast vergriffen, das lange Jahre vor seinem Erscheinen in verschiedenen Versionen als Schattenpublikation („Reader Einführung in die Qualitative Interviewforschung)“ kursierte und heute bereits in zweiter Auflage erschienen ist. Es ist nicht zu viel gesagt, dass Jan Kruse hiermit einen neuen Klassiker des deutschsprachigen Methodenlehrbuchs geschaffen hat.
Durch seine bundesweite Tätigkeit als Methodenlehrer und -coach haben viele SozialwissenschaftlerInnen Jan Kruse in den Jahren seines Wirkens in der qualitativen Methodenlandschaft erlebt, mit ihm diskutiert, von ihm gelernt, mit ihm gelacht, von seinem Rat und seinen in klarer Sprache geschriebenen Schriften sehr profitiert. Nicht zuletzt durch die mit Charisma, Enthusiasmus und viel Humor durchgeführten Workshops wurde er zu einer bekannten Persönlichkeit in der deutschsprachigen Forschungsmethodenszene, weit über Freiburg und über die Soziologie hinaus. Die Habilitation hat er mit seiner letzten Publikation beinah vollendet, den bereits verfassten Habilitationsvortrag musste er 2014 jedoch wegen seiner Erkrankung im letzten Moment absagen.
Jan Kruse ist am 13. Mai 2015 im Alter von 41 Jahren nach schwerer Krankheit gestorben. Mit ihm ist ein herausragender Lehrer, ein inspirierender Soziologe, ein geschätzter Kollege und, für viele von uns, ein guter Freund von uns gegangen. Wir werden ihn sehr vermissen. Unsere tief empfundene Anteilnahme gilt seiner Frau und seinen drei Töchtern.
Stephanie Bethmann
Organspende und -transplantation in Deutschland.
Ein Aufruf zur Wiederbelebung von Diskurs und Praxis