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Nachruf

Nena (Cornelia) Helfferich ist am 23.11.2021 gestorben.
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Nena Helfferich

Nena Helfferich hat so viele von uns auf ganz unterschiedliche Art und Weise beeindruckt und beeinflusst: als forschende Kollegin, als Lehrende, als solidarische Verbündete und als Freundin.

Mit dem Institut für Soziologie hat sie als Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule in Freiburg in zahlreichen Forschungskooperationen zusammengearbeitet, beispielweise im Rahmen der Studien frauen leben und männer leben. Daneben hat sie spannende Seminare am Institut gegeben: Warum und wie sich aus Texten Sinn rekonstruieren lässt; Über theoretische Grundlagen qualitativer Sozialforschung und ihre Anwendung in Auswertungsstrategien; Zu Familiensoziologie als Soziologie der Geschlechter- und Generationenbeziehungen. Drei Beispiele, die bereits den Bezug zu ihrer Arbeit erkennen lassen – was die Seminare umso interessanter und lebendiger machte. Nicht zuletzt hat sie Studierende des Instituts betreut, ihnen in methodischen und thematischen Fragen weitergeholfen – vor allem, indem sie die richtigen Fragen gestellt hat. Das mag die eine oder den anderen ab und an kurz aus dem Konzept gebracht haben, hat dann aber oft entscheidend zum Gelingen von Forschungsarbeiten beigetragen.

Durch Nena gab es auch eine starke Verbindung des Instituts für Soziologie der Universität Freiburg und der Evangelischen Hochschule in Freiburg. So hatten beispielsweise einige Studierende im Rahmen von Studienprojekten und Forschungshospitationen die Möglichkeit, an einem ihrer zahlreichen Projekte bei SOFFI F. mitzuarbeiten und so wertvolle Erfahrungen zu sammeln.

Aus solchen manchmal kurzfristig geplanten Forschungshospitationen wurden teilweise auch längere Mitarbeiten. Es ging ein gewisser Sog aus: von den spannenden Forschungsthemen, den anspruchsvollen und ertragreichen Methoden, aber auch von Nena als (Forscherinnen-)Person selbst. Vielen Studierenden hat Nena so einen tiefen Einblick in die Forschungspraxis gewährt – mehr noch: Sie konnten tatsächlich zu Projekten beitragen, wurden ernst genommen. Sie konnten in zahlreichen gemeinsamen Analysesitzungen in der Praxis ihr methodisches Repertoire erweitern und lernten außerdem, wie wichtig es ist, immer neu zu überlegen, welches Vorgehen an welchem Punkt der Forschung Sinn macht. Das ist forschendes (Methoden-)Lernen par excellence.

Nena stand für praktizierte Gegenstandsangemessenheit. Methoden waren bei ihr nie Selbstzweck, sondern hatten immer klar das Ziel, gute Forschung zu betreiben und die Forschungssubjekte wirklich zu verstehen. So plädierte sie auch immer wieder für ein Wechseln im Modus – mal ging es um die sehr strukturierte und disziplinierte Erstellung von Einzelfallanalysen, dann wieder fand sich das Projektteam inmitten eines Raums mit Unmengen an bedrucktem Papier wieder, um Muster zu erkennen, Zusammenhänge zu verstehen und Typologien zu entwerfen. Mal trafen die Analysegruppen sich, um Interviews sequenzanalytisch auszuwerten, dann wieder im größeren Projektkontext für den Austausch und die Verbindung zwischen qualitativen und quantitativen Analysen. Überhaupt hatte Nena ein beeindruckendes analytisches Repertoire mit Blick für wichtige Themen und vor allem auch Themen, die gerade erst im Aufkommen sind. Sie hatte gleichzeitig eine enorme Genauigkeit beim Analysieren und trotzdem auch immer „das Große und Ganze“ im Blick. Dadurch gelang ihr auch, den großen Ministerien den Wert der „kleinen Daten“ zu zeigen. Ihre Forschung war immer politisch und immer voller Leidenschaft, mit viel Freude an der Arbeit trotz teilweise herausfordernder Themen.

Gerade auch diese Kooperationen mit dem Institut für Soziologie sowie das gemeinsame Forschen haben dazu beigetragen, dass sich eine Art „Freiburger Stil“ etablieren konnte. Jan Kruse hat Nena in seinem Buch zum Integrativen Basisverfahren gemeinsam mit Gabriele Lucius-Hoene als seine „beiden Lehrmeisterinnen“ bezeichnet. Nena hat dieses Integrative Basisverfahren mitentwickelt – es ist bis heute prägend für das, was am Institut für Soziologie an qualitativer Sozialforschung betrieben und gelehrt wird.

Essenziell für die Institutionalisierung der qualitativen Forschung war auch Nenas Initiierung und Etablierung des interdisziplinären Forschungsvereins iqs (das Institut für Qualitative Sozialforschung Freiburg e.V.), dessen Ziel es ist, die qualitative Sozialforschung und deren wissenschaftliche Grundlagen zu fördern. Auf Nenas Initiative und Vorbereitung hin wurde es 2006 an ihrem Geburtstag, dem 18. Juli, gegründet. Bis zum Januar 2015 war sie im Vorstand des Vereins, bis Januar 2013 Vorsitzende. Im Rahmen dieser Vereinsarbeit wurden beispielsweise zwei Tagungen veranstaltet, die an der Evangelischen Hochschule stattfanden: im November 2010 die wissenschaftliche Tagung „Agency und Agentivität“ (inklusive entsprechendem Sammelband), im November 2012 die wissenschaftliche Tagung „Die qualitative Analyse internetbasierter Daten“ (ebenfalls inklusive entsprechendem Sammelband). Nena schlug auch über ihre Vereinsarbeit eine Brücke zur Lehre und der Vermittlung qualitativer Methoden und hat fortwährend mit den anderen Mitgliedern darüber diskutiert, wie dies am besten zu schaffen sei.

In ihrer Art, Soziologie zu treiben, hat Nena immer verschiedene Aspekte miteinander verbunden – ganz grundlegend hat sie so z.B. praxisnahe und -relevante Forschung und grundlagentheoretische Forschung betrieben. Damit ist ihr gelungen, was nur sehr Wenigen gelingt. Auch in ihren Methoden-Lehrbüchern ist ein solcher Spagat gelungen: Sie sind inhaltlich anspruchsvoll und trotzdem zugänglich und anschaulich. Damit hat sie die Qualität vieler Forschungen substanziell verbessert. Dazu tragen zum einen die vielen Übungen bei, die Nena über viele Jahre hinweg entwickelt hat und die es Noviz*innen erlauben, sich auf bestmögliche Weise auf die vielfältigen Herausforderungen des Interviewens (und Interviewt-Werdens) vorzubereiten. Zum anderen zeichnet Nena kein idealtypisches (und mittelschichtszentriertes) Bild qualitativer Interviews, dem die Praxis nur hinterherhinken kann, sondern geht beispielsweise auf "karge" Interviews ein und sensibilisiert so für "fremde" Kommunikationsmuster.

Familiensoziologie hat Nena auf ganz eigene Weise betrieben und auch hier Brücken geschlagen. Hier hat sie an verschiedenen Stellen Wichtiges jenseits des Mainstreams geleistet: Erstens hat sie Familiensoziologie auch aus kultursoziologischer Perspektive betrieben. Zweitens hat sie Familiensoziologie aus qualitativer (und Methodenmix-) Perspektive betrieben. Und drittens hat sie eine starke und systematische Verbindung zur Geschlechterforschung hergestellt. Nena war bereits in den 1990er Jahren unter feministischen Studierenden und Forschenden bekannt. In feministischen Kreisen war sie legendär, weil sie sozialwissenschaftliche „Frauenforschung“ betrieb, weil sie zu diesen Themen veröffentlichte und präsent war, weil sie Stellung bezog und weil sie schon 1996 SoFFI F., das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen, gründete.

Eine weitere Verbindung, die Nena zu schaffen wusste und die nicht selbstverständlich ist: das ergebnisorientierte und systematische Arbeiten und das Sich-gut-gehen-Lassen und Erfolge feiern. Auch bei sehr arbeitsamen iqs-Treffen hat Nena oft dafür gesorgt, dass leckeres Essen und Getränke vorhanden waren. Auch Nenas Habilitation bzw. das Erscheinen ihres Buches „Familie und Geschlecht“ nahm sie zum Anlass einer größeren Feier, auf der sie viele ehemalige und aktuelle Mitarbeiter*innen, Kolleg*innen, Weggefährt*innen aus unterschiedlichen Kontexten sowie ihre Familie und Freund*innen einlud.

Auch umgekehrt hat Nena Genuss und Wissenschaft verbunden. Einmal hat sie in einem Projekt angekündigt, sie würde einige Transkripte in ihren Irland-Urlaub mitnehmen. Nach offenbar irritierten Blicken ihrer Mitarbeiter*innen und der Anmerkung, dass man im Urlaub auch gut mal einen Krimi lesen könne, sagte sie fröhlich und euphorisch „Das ist doch spannender als jeder Krimi!“.

Nena hatte eine scheinbar unerschöpfliche Energie – wenn andere in der Pause zwischen zwei Projekttreffen kurz etwas aßen, ging sie noch eben eine Runde laufen. Spätestens jetzt kam der Verdacht auf, dass Nenas Uhren anders tickten. Und das taten sie tatsächlich: Oft stellte sie sich ihre Uhr deutlich vor, um pünktlich einen ihrer zahlreichen Termine erreichen zu können. Das war nur eine ihrer vielen kleinen Strategien, all das, was sie initiiert und durchgeführt hat, zu schaffen.

All dies zeigt schon, wie umtriebig Nena war – ein Wort, das vielen einfällt, wenn sie an Nena denken. Sie hatte ein unglaubliches Arbeitspensum und hat oft so vieles gleichzeitig gestemmt, dass es ein kleines Wunder war, dass sie sich trotzdem auch Zeit für zugewandte Gespräche nahm. Auch wenn es manchmal nur ein kurzes Zusammentreffen war, dann war sie für diese Zeit so präsent und konzentriert und hat ihr Wissen geteilt, so viele inspiriert und wichtige Projekte und Themen vorangetrieben. Das bleibt. Auch über ihren Tod hinaus.

Etwas, das Nena auch verbinden konnte, waren Menschen. Daher ist es wohl auch kein Zufall, dass wir diesen Text zu Ehren von Nena als Gruppe und institutionsübergreifend verfassen.

Wir vermissen dich, liebe Nena.

Diana Cichecki, Stephanie Bethmann, Nina Degele, Judith Eckert, Patricia Keitsch, Dominique Schirmer 

im Namen des Instituts für Soziologie der Universität Freiburg und des Vereins für qualitative Sozialforschung Freiburg e.V. (iqs)

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