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Karl Marx und die Frage nach der Gesellschaft im neuzehnten Jahrhundert

Ist Marx nunmehr endgültig tot, wie jubilatorische Diskurse verkünden, oder verstärkt sich heute die Verpflichtung, von Marx zu sprechen? - Ausgehend vom Erfahrungshorizont des 19. Jahrhunderts und den Wandlungen des Marx-Verständnisses bis zur Gegenwart werden die junghegelianischen Debatten um "Kritik und Gesellschaft", die Kategorien "Eigentum und Arbeitsteilung" sowie die Bedeutung von "Arbeit, Kraft, Wert" von Hegel zu Nietzsche behandelt. Die Vorlesung ist der erste Teil meines Drei-Semester-Überblicks über die Theoriegeschichte der letzten 200 Jahre. Dabei werden die für Soziologie, Kulturwissenschaften und Anthropologie leitenden Begriffe "Gesellschaft", "Moderne", "Kultur" an den historischen Orten aufgesucht, an denen sie problematisch werden und an denen die Theoriestrukturen entstehen, in denen wir heute denken. "Gesellschaft" wird im 19. Jahrhundert problematisch. Karl Marx hat zwischen Hegel und Nietzsche die im Guten wie im Bösen bis heute folgenreichste Gesellschaftstheorie entwickelt, die zu aktualisieren oder zu korrigieren oder zu überwinden in der neuen Periode des Kapitalismus, die wir erleben, strittig gemacht werden muss. - "Moderne" wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts problematisch. Max Weber und Sigmund Freud sowie auf der rechten und linken Seite radikalisierend Ernst Jünger und Ernst Bloch, Georg Lukàcs, Carl Schmitt, Wilhelm Reich und Arnold Gehlen haben in den Zwanziger Jahren Diagnosen von Modernität und Strategien zur Kritik der Moderne entworfen, die zu aktualisieren oder zu korrigieren oder zu überwinden für das heutige Verhältnis von Apologie und Kritik von Moderne, Modernisierung und Modernität zentral sind. Die Vorlesung Ungeliebte Moderne. Theoretischer Radikalismus im 20. Jahrhundert entfaltet diesen Komplex. - "Kultur" wird seit 1968 mit der Thematisierung der Modernitätskatastrophen Archipel GULAG, Auschwitz, Hiroshima und ihrer Erhebung zu Geschichtszeichen problematisch. Zwischen der Intellektuellenszene in Deutschland und Frankreich und teilweise vermittelt durch Schauplätze in den USA hat sich seit 1968 ein Streit um "Poststrukturalismus" und "Postmoderne" entwickelt, in dem es um eine Neubewertung von Kultur unter den Bedingungen von Interkulturalität und medialer Vernetzung geht. Die Vorlesung Kulturtheorie in Deutschland und Frankreich seit 1968 entfaltet diesen Komplex. An den Vorlesungen können auch Interessenten aus dem Grundstudium und Hörer anderer Fakultäten teilnehmen. Literaturhinweise werden in der Vorlesung gegeben bzw. sind auf der Homepage des Instituts einsehbar.

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Leseliste

Vorbemerkung:
Die Vorlesung ist so angelegt, daß ihr bei regelmäßiger Teilnahme auch ohne vertiefende Hausarbeit zu folgen ist. An der Vorlesung können Studenten im Grund- und Hauptstudium sowie interessierte Hörer anderer Fakultäten teilnehmen. Die Literatur in dieser Liste ist dem Gang der Vorlesung entsprechend geordnet. Sie enthält stark ausgewählte Texte, die teils in der Vorlesung behandelt werden, teils der ergänzenden und weiterführenden Lektüre anheimgestellt sind. Die vorhandene allgemeine und einführende Literatur zu Marx ist angesichts der Heterogenität und der Parteilichkeit der Marx-Bilder stets mit Vorsicht zu benutzen.
Hilfreich ist:

Hans Magnus Enzensberger (Hg.), Gespräche mit Marx und Engels, 2 Bände, Frankfurt/Main 1973 (die Edition enthält gründlich recherchierte Aussagen über Marx und Engels 1823 - 1895 sowie ein Injurien- und Elogenregister von Marx und Engels Äußerungen zu den jeweiligen Gewährsleuten)

I. ZUGÄNGE ZUM NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERT

  • Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre (1937), Frankfurt/Main 1962 (gibt einen heute noch gut lesbaren Überblick über die Geschichte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf das Verhältnis von Demokratie und Sozialismus)
  • Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, sowie ders., Deutsche Geschichte 1866-1918, Band 1: Arbeits-welt und Bürgergeist, München 1990, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1993, (Standardwerk, ohnehin sehr zu empfehlen)
  • Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1974 (wichtige Aufsätze auch zur "Geschichte an und für sich", wie sie im 19. Jahrhundert gedacht wird, samt der daraus folgenden Probleme)
  • George Steiner, Das große Unbehagen, in: Ders. In Blaubarts  Burg, Frankfurt/Main 1972 (was sich im 19. Jahrhundert zusammenbraut)

II. GESCHICHTE DES MARXISMUS
(Marx-Bilder 1850 bis heute)

Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus, 2 Bände, Frankfurt/Main 1974 (hilfreiche Dogmengeschichte)

a. Frühe Marx-Bilder

  • Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1876-1883), in: MEW, Band 19 (überaus einflußreiche Modifikation des Marx-Bildes)
  • Ernst Nolte, Marxismus und Industrielle Revolution, Stuttgart 1983 (stellt Marx und Engels in den Kontext der  Industriealisierung und der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts)
  • Shlomo Na'aman, Gibt es einen "wissenschaftlichen Sozialismus"? Marx, Engels, und das Verhältnis zwischen sozialistischen Intellektuellen und den Lernprozessen der Arbeiterbewegung, Hannover 1979 (über Ausgrenzungen von Emanzipationsbewegungen aus dem Marxismus)

b. Nach Lenin

  • W.I. Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, in: Lenin, Werke, Band 19 (überaus einflußreiche Modifikation des Marx-Bildes)
  • Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution, Berlin 1919 (über Terror und bolschewistische Methoden)
  • Victor Serge, Beruf: Revolutionär. Erinnerungen. 1901-1917- 1941 (Paris 1951) Frankfurt/Main 1967 (von 50 Lebensjahren 10 Jahre in verschiedenen Gefangenschaften)
  • Karl Korsch, Zehn Thesen über Marxismus heute (1950), in: Ders., Politische Texte, Frankfurt/Main, Köln 1974 (eine wichtige Bilanzierung)
  • Theodor W. Adorno, Abweichung, in: Ders., Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Nr.73, (1951) Frankfurt/Main 1964 (über marxistischen Optimismus)

c. Nach 1968

  • Situationistische Internationale, Das Elend der Studenten und der Beginn einer Epoche, zuerst Straßburg 1966, dann diverse Fassungen (Zentralschrift der 68er Revolte)
  • André Glucksmann, Köchin und Menschenfresser. Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager, Berlin 1974 (die Frage nach der Verantwortlichkeit marxistischen Denkens)
  • Michail Gorbatschow, Welt der Zukunft und der Sozialismus, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 37/1990, Sonderheft 1 (Abschiede und Rettungen)
  • Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992 (Marx als Vorhegelianer)
  • Jacques Derrida, Marx' Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 1995 (wenn der Kommunismus ein Gespenst war, dann...)

III. KRITIK UND GESELLSCHAFT NACH HEGEL

  • Kosmas Psychopedis, Geschichte und Methode. Begründungstypen und Interpretationskriterien der Gesellschaftstheorie: Kant, Hegel, Marx und Weber, Frankfurt/Main, New York 1984 (Auseinandersetzung mit den Genannten im Hinblick auf Fragen einer Theorie der Gesellschaft)
  • Wolfgang Eßbach, Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988 (wie nach Hegel Konzepte für Kritik und Gesellschaft aus einer Gruppendiskussion entstehen)
  • Ingrid Pepperle (Hg.), Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz, Leipzig u. Frank-furt a.M. 1986, (hilfreiche Quellensammlung)
  • Frits Kool, Werner Krause (Hg.), Die frühen Sozialisten, Freiburg 1967 (umfangreiche und gut kommentierte Sammlung von frühsozialistischen Texten)

IV. ABRECHNUNGEN

  • Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum (1844), Stuttgart 1972 (Abrechnung mit dem Hegelianismus)
  • Karl Marx und Friedrich Engels, Sankt Max (1845-1846), in: Dies., Die deutsche Ideologie, als MEW Band 3 (Abrechnung mit der Abrechnung)
  • Wolfgang Eßbach, Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst  und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus - eine Studie über die Kontroverse zwischen Max Stirner und Karl Marx, Frankfurt/Main 1982 (Stirner als Geburtshelfer und böse Fee an der Wiege des Marxismus)

V. GESELLSCHAFTSGESCHICHTE: EIGENTUM UND ARBEITSTEILUNG

  • Karl Marx und Friedrich Engels, Feuerbach (1846), in: Dies., Die deutsche Ideologie, als MEW Band 3
  • Karl Marx und Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest (1848), in: MEW Band 4
  • Karl Marx, Epochen ökonomischer Gesellschaftsformation, in: Ders., Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857-1858), als MEW Band
  • Karl Marx, Kooperation, Teilung der Arbeit und Manufaktur, Maschinerie und große Industrie, in: Ders., Das Kapital.  Kritik der politischen Ökonomie, Band 1 (1867), als MEW Band 23
  • Friedrich Engels, Von der Autorität (1874), in: MEW Band 18

VI. ARBEIT, KRAFT, WERT
(mit Nietzsches Entzauberungen)

a. Friedrich Nietzsche

  • Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden hg. v. G. Colli und  M. Montinari, München 1980 (=KSA, von der Kritischen Ausgabe von Colli und Montinari, Berlin 1967-1977. Frühere Ausgaben sollten  nicht mehr benutzt werden.)
  • Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, 3Bde. München 1978/79 (ergiebige Biographie)
  • Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosoph-Psychologe-Antichrist (1950), Darmstadt 1982 (liberale Ehrenrettung Nietzsches nach 1945)
  • Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976 (einflußreiche poststrukturalistische Nietzsche-Interpretation)
  • Jost Hermand, Marx und/oder Nietzsche. Anmerkungen zur Krise des Marxismus, in: R.Grimm, J.Hermand (Hg.), Karl Marx und Friedrich Nietzsche, Königstein 1978 (gibt nützliche Hinweise zur Geschichte von Marx-Nietzsche-Kombinationen)

b. Zentralität der Arbeit

  • G.W.F. Hegel, Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft, in: Ders. Phänomenologie des Geistes (diverse Ausgaben)
  • Herbert Marcuse, Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs (1933), in: Ders., Kultur und Gesellschaft II, 1968 (diskutiert Marx' Arbeitsbegriff nach Entdeckung der "Frühschriften")
  • Michael Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, Frankfurt/M. 1973 (systematisiert den verstreuten Passagen nachfolgend das Konzept von "Klasse" und "Arbeiterklasse")
  • Friedrich Nietzsche, Aphorismen zur Herr-Knecht-Dialektik,  in: KSA 7,775; 11,222
  • Friedrich Nietzsche, Aphorismen zur Arbeit, in: KSA 2,232; 3,154; 3,183f; 3,557; 12,281
  • Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KSA, Bd.5 (zur Sklavenmoral und Theorie des Ressentiments)

c. Dunkelheit der Kräfte

  • Karl Marx, Randglossen zum Programm der Deutschen Arbei terpartei, in: MEW Bd.19 (Kraft und Arbeit)
  • Erhard Lucas, Marx, Engels und Darwin, in: International Review od Social History 9/1964, S.177ff. (biologische Kräfte, historische Kräfte)
  • Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt 1972, bes. S.211-315 (Konzepte potenter Materie)
  • Herbert Breger, Die Natur als arbeitende Maschine, Frankfurt/M. 1982 (Kraftkonzepte im 19. Jahrhundert)
  • Friedrich Nietzsche, Aphorismen zu Darwin und zum "Fortschritt", in: KSA 6,120; 13,315; 13,408
  • Friedrich Nietzsche, Aphorismen zu Kräften und Machtquanta, in: KSA 13,257; 13,274
  • Pierre Klossowski, Nietzsche, Polytheismus und Parodie (1957), in: W.Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt/M., Berlin 1986 ( Konsequenzen für die Theorie der Religion)

d. Umwertung der Werte

  • Gerhard Stavenhagen, Geschichte der Wirtschaftstheorie, Göttingen 1969 (hilfreiche Dogmengeschichte zu Wertund Preislehren)
  • Karl Marx, Die Wertform oder der Tauschwert, in: Ders., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie Bd.1 (1867) als MEW Bd.23
  • Jürgen Schampel, Das Warenmärchen. Über den Symbolcharakter der Ware im "Kapital" von Karl Marx, Hanstein 1982 (wenn Waren sprechen könnten)
  • Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt/M 1970 (über den Wert der Abstraktion)
  • Friedrich Nietzsche, Aphorismen zu Wert, Entwertung, Umwertung, in: KSA 11,135; 11,271; 12,364; 13,46; 13,57; 13,585
  • Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Ders., E.Jüngel, S.Schelz: Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979 (zur Werteinflation)
  • Cornelius Castoriadis, Wert, Gleicheit, Gerechtigkeit, Politik. Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns, in: Ders., Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt/M. 1981